Sonntag, 10. Mai 2020

Der Zopf








Die Lebenswege von Smita, Giulia und Sarah könnten unterschiedlicher nicht sein. In Indien setzt Smita alles daran, damit ihre Tochter lesen und schreiben lernt. In Sizilien entdeckt Giulia nach dem Unfall ihres Vaters, dass das Familienunternehmen, die letzte Perückenfabrik Palermos, ruiniert ist. Und in Montreal soll die erfolgreiche Anwältin Sarah Partnerin der Kanzlei werden, da erfährt sie von ihrer schweren Erkrankung.


Ich muss zugeben, dass es nun schon mehr als ein halbes Jahr her ist, dass ich dieses Buch gelesen habe. Nichts desto Trotz habe ich viele Details noch gut in Erinnerung, insbesondere, wie ich mich beim Lesen des Buchs gefühlt habe.

Unsere drei weiblichen Protagonisten können unterschiedlicher nicht sein. Smita lebt zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Indien. Sie gehört zu den Dalit, einer Gruppe Menschen, die als Außenseiter und wie Abschaum behandelt werden. Ihren Lebensunterhalt "verdient" sie sich damit, in den Häusern reicher Leute, die Toiletten zu reinigen. Täglich muss sie sich mit den Fäkalien dieser Leute auseinandersetzen, ihre Arbeit ist wortwörtlich ein Kackhaufen. Für ihre Tochter Lalita wünscht Smita sich ein anderes, besseres Leben. Sie spart genug Geld an, um Lalita zur Schule zu schicken, sie möchte, dass ihre Tochter lesen, schreiben und rechnen lernt, wie die Kinder, der Reichen.
Unsere zweite Protagonistin, Sarah, lebt in Kanada und führt anders als Smita ein privilegiertes Leben. Mit viel Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen hat sie sich langsam aber stetig nach oben gearbeitet und ist nun eine erfolgreiche Anwältin, mit Chancen darauf, Partnerin der Kanzlei zu werden. Dass sie während ihres Jobs keine Zeit für ihre gescheiterte Ehe und ihre Kinder hat, ist inzwischen Alltag für sie. Alles was zählt ist ihre Karriere und sich zwischen ihren männlichen Kollegen stark und selbstbewusst zu zeigen. Doch dann wird sie krank und die Welt, wie sie sie kennt, stürzt langsam, aber sicher in sich zusammen.
Giulia, unsere dritte Protagonistin lebt auf Sizilien, aufgewachsen in einer Unternehmer-Familie. Von klein auf wusste sie, dass sie die Perückenfabrik ihres Vaters eines Tages übernehmen wird. Sein Tod jedoch kommt plötzlich und zu früh und anstatt eines Unternehmens mit Zukunftschancen, hinterlässt er ihr ein Unternehmen, dessen Bankrott kurz bevor steht. Giulia, die ihr Leben lang schon unabhängig und anders als ihre Schwestern war, steht nun vor einer wichtigen Entscheidung. Nimmt sie es selbst in die Hand und versucht mit allen mitteln die Fabrik zu retten? Oder gibt sie auf und katapultiert sich selbst damit in ein Leben, welches sie nie führen wollte?
Besonders am Anfang habe ich mir oft die Frage gestellt, wie es sein kann, dass sich diese Geschichte um drei so unterschiedliche Personen handelt und ob überhaupt die Möglichkeit besteht, dass sie an einem gewissen Punkt alle drei aufeinander treffen. Ich will nicht zu viel verraten, aber das Ganze löst sich erst am Ende auf. Über den ganzen Verlauf des Buches lies mich diese Frage nicht los, insbesondere, als sich die Geschichte langsam dem Ende zuneigte und noch immer nichts in dieser Richtung geschehen ist. Die Auflösung jedoch ist so simpel und doch sehr berührend. Im Nachhinein frage ich mich durchaus, wie es möglich ist, dass ich es nicht habe kommen sehen, aber genau das ist der Zauber dieses Buchs. Wenn man genau hinschaut, dann ist der rote Faden von Anfang an zu erkennen und es ist durchaus möglich, sich die Geschichte im Kopf genauso auszumalen, wie sie dann tatsächlich passiert. Aber für mich war es eher wie ein riesen großes Puzzle, dessen drei Teile ich fertig stellen konnte, mir aber die Gabe dazu fehlte, eben diese Teile miteinander zu verbinden. Erst am Ende machte es klick und das Lächeln, dass dabei auf meinem Gesicht erschien, lies mich bis zur letzten Seite nicht mehr los. Das Puzzlestück, dass unsere drei Protagonisten mit einander verbindet ist einfach, aber magisch und zeigt, dass auch, wenn wir tausende Kilometer voneinander entfernt leben und unsere Lebensstandards noch so unterschiedlich sein können, es immer etwas gibt, das uns miteinander verbindet. Tatsächlich habe ich in den letzten Monaten öfter darüber nachgedacht, ob es irgendwo auf dieser Welt jemanden gibt, der ganz anders ist als ich, aber trotzdem das passende Ende zu meinem Puzzlestück ist.
Von jeder dieser wundervollen Frauen habe ich etwas mitgenommen. Smita hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, für das zu kämpfen, woran man glaubt und wofür man steht und, dass jeder das Recht auf Freiheit hat. Sarah hat mir gelehrt, dass das Leben nicht immer einfach und so ist, wie man es sich wünscht und es okay ist, mal einen Schritt zurückzutreten und Schwäche zu Zeigen. Es ist okay, wenn man nicht immer alles schafft, was man sich vornimmt und um Hilfe Fragen vieles einfacher macht. Giulia, die mir so ähnlich war, dass es schon gruselig ist, hat mir gezeigt, dass man sich selbst treu bleiben soll, es aber trotzdem nicht schaden kann, über den bekannten Tellerrand hinaus zu schauen und über seinen Schatten zu springen. Jede dieser Frauen, hat wundervolle, starke Eigenschaften an sich, die Laetitia Colombani in einer außergewöhnlichen Geschichte und mit einem sehr lockeren und flüssigen Schreibstil zu einer Geschichte geflochten hat.
Einen kleinen negativen Punkt habe ich trotzdem noch. Zwischendurch erscheinen immer wieder kurze Passagen und Ausschnitte, die nicht zu einer der Geschichten unserer drei Protagonisten gehören und mich persönlich immer wieder aus dem Lesefluss gebracht haben. Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, dass diese Ausschnitte sich um den "Erzähler" drehen und quasi verdeutlichen, wie die Geschichten wortwörtlich miteinander verwoben sind. Vom Ding her eine sehr schöne Idee und eine schlau integriertes Symbol (uiuiui, Deutschunterricht-Flashback incoming), mir persönlich hätte es jedoch besser gefallen, wenn diese kurzen Paragraphen weniger oft eingeworfen wären.




Laetitia Colombani hat mit ihrem Roman "Der Zopf" die Geschichten drei komplett unterschiedlicher Frauen auf besondere Weise miteinander verbunden und so etwas Magisches erschaffen. Die drei starken Protagonistinnen haben mich dazu ermutigt, stolz auf mich selbst zu sein, dafür zu kämpfen, was ich will und auch, nicht aufzugeben, wenn der erste, einfache Weg, plötzlich versperrt ist. Manchmal ist der Weg, den man gehen muss vollgestellt mit Stolpersteinen, aber so lange man sein Ziel nicht aus den Augen verliert, schaffen wir Frauen alles.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen